955 Menschen meiner Stadt haben heute AfD und NPD gewählt. Das sind gut ein Drittel der gültigen Stimmen insgesamt. Ein trauriger Abend, 28 Jahre nach dem Mauerfall. Um es vorweg zu sagen: Ich verurteile niemanden davon. Jedenfalls nicht pauschal, denn ich weiß, dass wir tatsächlich Menschen unter uns haben, die rechtsradikal sind. Punkt. Dies kann ich aus eigenem Erleben sagen. Dennoch aber verurteile ich eben nicht pauschal  alle und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass eben 955 Menschen meiner Stadt als Radikale zu bezeichnen wären. Und ich bin zudem diese nie enden wollende Debatte leid, Parteien in demokratisch und nicht demokratisch zu unterscheiden, wenn diese doch alle aus einer freien und demokratischen Wahl hervorgegangen sind. Und diese Wahl war eine solche. Vielmehr also sehe ich Protest als Hintergrund der Entscheidung vieler Bürger. Protest gegen etwas, was ich gefühlte Zweitklassigkeit nenne. Gepaart mit dem Gefühl, nichts bewegen zu können, ohnmächtig etwas ausgeliefert zu sein. Protest, den ich nicht teile. Auch, wenn ich dessen Wurzeln verstehe. Doch was ist dran an diesem Gefühl? Und warum kann man darüber in unseren Breiten offenbar nicht reden? Warum muss es ein Protest sein, der sich am Ende als Bumerang erweisen kann?

Ich habe es heute in den facebook-Debatten schon einmal geschrieben: Nehme ich diese 955 Menschen als Referenz für Unzufriedenheit, so kennen ich von jenen vielleicht 40 oder 50. Das sind jene, die im Laufe eines Jahres per Mail, Brief oder Besuch im Rathaus, einem zufälligen Treffen auf der Straße ihrem Unmut Luft machen. Und ich nehme für mich in Anspruch, dass ich all jenen offen und mit Tat entgegen trete. Auch, wenn ich am Ende manchmal erklären muss, warum ich nicht helfen kann oder eine Sache eben nicht geht. Denn nicht jeder Wunsch ist auch erfüllbar. Das sollten wir verstanden haben. Aber zurück zu dieser geringen Zahl. Sicher bin ich nicht der erste Ansprechpartner für grundlegende Fragen. Aber von den Abgeordneten, die dafür ja da sind weiß ich, dass es bei denen in den Büros nicht wesentlich mehr kritische Bürgerkontakte gibt. Dort aber gehörten diese ja eigentlich hin. Wo aber sind diese Menschen? Warum gehen sie nicht dorthin? Weil sie enttäuscht sind? Aber das könnten sie doch bitte nur dann sein, wenn sie mal dort waren und ihnen niemand zugehört hat. Stellt sich also die Frage, warum das so ist und dieser wichtige Diskurs eben oft nicht zustande kommt? Die Antwort ist einfach. Die Kanäle sind gestört. Und dies auf beiden Seiten.

Natürlich ist es richtig, dass 28 Jahre nach der Wende hier nicht dieselben Lebensbedingungen herrschen, wie in weiten Teilen der alten Bundesländer. Das ist nicht wegzudiskutieren. Aber dies liegt nicht unbedingt nur daran, das Politik versagt hat. Auch wenn diese Fehler macht. Wie wir alle. Das ist ein Teil der Wahrheit. Nein. Das liegt auch daran, dass wir es noch immer nicht gelernt haben, das Demokratie vom Mitmachen lebt und das Bürger sein auch bedeutet, mitzutun. Seien wir ehrlich. Viel zu oft ballen wir noch immer die Faust in der Tasche. Zuhause, wo es nur die Vertrauten sehen. Bringen wir uns ein? Nein. Ein Diskurs beim Bier vor der Garage. Mehr wird daraus meistens nicht. Einbringen im Sinne von etwas tun? Selten bis nie. Viele von denen, die sich über Dinge beklagen, die sie stören, tragen sie nicht dahin, wo diese hingehören und arbeiten auch an einer möglichen Lösung nicht mit. Doch wer sich nicht einbringt, darf eben nicht erwarten, sich im Ganzen wiederzufinden. Und in erster Linie hat jeder Verantwortung für sich selbst und sein Umfeld, das er gestalten kann. Viele haben in den Jahrzehnten des Umbruches viel Negatives erleben und ja, auch erleiden müssen. Das alles prägt. Doch wir vergessen dabei ein wenig, wo wir herkommen, was hier mal war. Das hier ein System im wahrsten Sinne des Wortes abgewirtschaftet hatte. Und auch dieses System war von Menschen gemacht und unterstützt. Wir vergessen, wie tief wir schon im Nichts standen und das es uns viel schlechter ergangen wäre, wäre die Mauer nicht gefallen. Wir übersehen, das Freiheit ein Wert ist, auch wenn wir diese nunmehr jeden Tag nutzen. In Meinung, im Tun und bei der Entdeckung der Welt. Bis hin zur Möglichkeit, eine Wahl zu haben. Was großartig ist und gerade heute sichtbar, auch wenn es im Ergebnis mich betroffen macht. Und wir übersehen, was bereits geschafft wurde. Und das ist eine Menge. Und wenn wir über den Tellerrand schauen, dann sollten wir erkennen, dass wir in einem der friedlichsten, sichersten und wohlhabendsten Länder dieser Erde leben. Und erkennen, dass uns gerade die großen Gewinner dieser Wahl dazu auffordern, die Schwachen gegen noch Schwächere zu hetzen. Das ist auch Wahrheit.

Und die eine Seite der Medaille.

Die andere ist jene Seite der Politik. Ja, oft abgehoben, distanziert. Ein eigener, um sich selbst kreisender Orbit. Doch auch hier ist die Pauschalisierung ebenso falsch. Auch hier gibt es sehr viele Abgeordnete, die sich jeden Tag bemühen, das Beste zu erreichen. Und dabei eben auch oft an Mehrheitsverhältnissen und einer unglaublichen Komplexität unserer Welt scheitern. Auch ich erlebe das jeden Tag. Auch ich denke manchmal, dass wir einfache Dinge inzwischen derart verkompliziert haben, dass man verrückt werden möchte. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede. Aber auch hier kann man Wege finden, Interessen durchsetzen. Das zeigen wir ebenfalls beinahe jeden Tag. Auch hier kann man verändern. Ja, dies könnte, dies müsste oftmals einfacher sein. Wir müssen wieder einfachere Wege finden, Mut haben, Dinge zuzulassen und zu entscheiden. Klingt einfach, ist aber sehr schwer.

Wir müssen – und damit meine ich auch und besonders meine SPD – grundlegend Dinge anders tun. Wir müssen und wieder mehr darauf besinnen, wofür wir stehen. Wir müssen erreichbarer sein, dichter dran als andere. Wir müssen ehrlich und offen sein, müssen mehr erklären und klare Kante zeigen. Auch und vor allem gegen Rechtsaußen. Denn die Höckes und Gaulands dieser Welt dürfen nicht mit platten, geschichtsvergessenen Parolen erfolgreich auf Menschenjagd gehen. Das darf nicht sein. Und wir müssen begreifen, dass wir eine Menge falsch machen, wenn wir Menschen an eben diese Gruppierung verlieren, die in ihrem Programm nackten Kapitalismus fordert, keine Lösungen hat und das Ganze nach außen als die Rettung der Welt verkaufen kann.  Das auch unsere Partei eine halbe Million Menschen an jene, teils rechtsradikale Partei verloren hat, muss uns zum grundlegenden Nachdenken bewegen. Klartext ist gefragt. Nicht Raute. Auch, wenn dies gerade sehr schwer ist. Deshalb ist der erste richtige Schritt, sich aus der GROKO zu verabschieden und stattdessen die Oppositionsführung zu übernehmen. Bevor dies Herr Gauland tun kann.

Wie also lösen wir das nun auf? Im Protest? Nein! Jedenfalls nicht alleinig. Denn ein reines Dagegen macht keine Zukunft. Die wird daraus gemacht, das man für etwas ist. Und dafür auch einen Weg hat, der gangbar ist. Und wenn es diesen nicht gibt, einen neuen Weg macht. Sonst ist es nur Polemik. Nichts weiter. Fordern kann ich auch alles. Wenn ich keinen Weg finde, dies auch zu machen, bleibt es ein enttäuschter Gedanke. Und ein unerfüllter Wunsch. Wer also unzufrieden ist, der muss sich einbringen. Und dies bitte sachlich, den auch das gehört zu dieser traurigen Wahrheit dazu: Der Umgang miteinander – gerade im Konflikt – ist derzeit traurig, seltenst korrekt und verhindert eine Miteinander. Doch wir können dies alles nur miteinander klären. Und wir müssen akzeptieren, dass es neben der unseren auch noch eine andere Meinung geben kann. Verständnis ist das Schlüsselwort. Und zwar beidseitig. Und vor allem müssen wir erkennen, dass Radikale gleich welcher Art zwar zum System gehören, dieses aber eben auch gefährden. Radikale leben davon, anderen Freiräume zu nehmen, diese einzuschränken und zu bestimmen. Und dies können wir nicht wollen. Gerade, weil wir dies in unserem Land mehrfach erleben mussten. Wer ein Ende dieses Erinnerns fordert, der schadet diesem Land schneller, als ein erfolgsbesoffener Wahlabend zuende ist.

Es ist ein trauriger Tag heute. Aber er zeigt uns auch, dass wir alle etwas zu lernen haben.